GOR '97
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  Online-Research und Anonymität. Experimente im WWW und mit Internet Relay Chats

Kai Sassenberg
und
Stefan Kreutz

Methode: Untersuchung anhand eines Laborexperimentes zum Internet-Relay-Chat (IRC) und eines WWW-Fragebogens

Bei abnehmendem Wissen über die Gesprächspartner in der Online-Kommunikation erfolgt eine zunehmende Orien-tierung an den individuellen Einstellungen und Bedürfnissen. Eine anonyme Kommunikationssituation fördert demnach offenbar zu einem gewissen Grad den Egoismus der Beteiligten.

Der wesentliche Unterschied zwischen Face-to-face-Kommunikation einerseits und computervermittelter Kommunikation (CMC) andererseits wird in der Einschränkung der vermittelbaren Aussagen gesehen. Dies ist bedingt durch den Wegfall nonverbaler und paraverbaler Kommunikation und durch den erhöhten Aufwand für das Tippen auf der Tastatur im Vergleich zum Sprechen. In den ersten Arbeiten zu diesem Thema wurde von einer reinen Kanalreduktion und damit einer generellen Verringerung der Informationsübertragung ausgegangen. In neueren Modellen wie dem »Reduced Social Cues«-Ansatz wird der Informationsverlust hauptsächlich auf psychosozialer Ebene vermutet, ohne daß eine weitere Spezifikation der psychologischen Wirkmechanismen erfolgt.

Die Anonymität der Kommunikationspartner, das heißt das Fehlen personenbezogener Informationen, ist eine Eigenschaft von CMC, für die ein theoretischer Ansatz zur Erklärung ihrer Wirkung vorliegt. Das Modell der »Social Identity DEindividuation« (SIDE) von Reicher, Spears und Postmes sagt vorher, daß sich mit zunehmender Anonymität (also bei abnehmendem Wissen über die Kommunikationspartner) Einstellungen und Verhaltensweisen verstärkt am Selbstverständnis ausrichten.

Je nach Situation und Kontext liegt ein Selbstverständnis als Mitglied einer Gruppe, also eine soziale Orientierung (saliente soziale Identität im Sinne der Selbst-kategorisierungstheorie von Turner), oder ein Selbstverständnis als Individuum, also eine individualistische Orientierung (saliente personale Identität), vor. Bei sozialer Orientierung sollten verstärkt Einstellungen und Verhaltensweisen auftreten, die einer Favorisierung der momentan relevanten eigenen Gruppe entsprechen. Bei individualistischer Orientierung wird die Umsetzung der eigenen Bedürfnisse als in größerem Maße verhaltensleitend angesehen.

Gleichzeitig postuliert das Modell mit zunehmender Identifizierbarkeit einer Person für die Kommunikationspartner eine stärkere Orientierung des Verhaltens dieser Person an den Interessen ihrer Kommunikationspartner. Zur Gültigkeit des SIDE-Modells für IRC-Gruppen (Internet Relay Chat) liegen bislang ausschließlich Untersuchungen vor, die Anonymität und Identifizierbarkeit gleichzeitig manipulieren. Eine Übertragung auf die Fragebogenforschung im Internet steht indes noch aus.

Auf der Basis des SIDE-Modells wurde ein IRC-Laborexeperiment zum Entscheidungsverhalten in Gruppen durchgeführt. Es zeigte sich entsprechend dem Modell bei individualistischer Orientierung unter Anonymität eine stärkere Ausrichtung der Einstellungen an den individuellen Bedürfnissen als bei nicht-anonymer Kommunikation. Entgegen der Erwartung trat hingegen bei sozialer Orientierung unter Anonymität keine stärkere Ausrichtung der Einstellungen an der Norm der eigenen Gruppe auf als bei nicht-anonymer Kommunikation.

Zur weiteren Untersuchung des sozialen Einflusses bei salienter sozialer Identität wurde ein Experiment mit Fragebögen im WWW angeschlossen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, daß die Effekte in früheren Studien zum SIDE-Modell eher auf die Identifizierbarkeit der eigenen Person für die Kommunikationspartner denn auf deren Anonymität zurückzuführen sind.

Für die Fragebogengestaltung im WWW kann daraus abgeleitet werden, daß ein Instruktionstext, der eine individualistische Orientierung der Probanden provoziert, zu einem Antwortverhalten führt, das ihre individuellen Bedürfnisse und Einstellungen widerspiegelt. Um Antworten von sozialer Erwünschtheit zu vermeiden, sollte bei WWW-Untersuchun-gen zudem verstärkt darauf geachtet werden, den Probanden den Eindruck zu vermitteln, daß ihre Angaben nicht mit ihrer Person in Verbindung gebracht werden können.

Dipl.-Psychologe Kai Sassenberg ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Göttingen.
E-Mail: ksassen@gwdg.de

Stefan Kreutz studiert Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und ist Diplomand bei MORE INTERACTIVE (Düsseldorf).
E-Mail: pms1@moresales.de

 


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